Die Versorgungslandschaft stimmt nur, wenn ich genug qualifizierte Anbieter habe. Ich brauche also auch in 10 Jahren Physiotherapeuten, die ihren Beruf mit Herzblut ausüben. Wegen der schon altersbedingt steigenden Morbidität der Menschen müssen es mehr Physiotherapeuten sein, als heute tätig sind.
Was steht dem entgegen?
Freude am Beruf gibt es nur dort, wo die Rahmenbedingungen stimmen. Hier gibt es Defizite. Denn:
1. Der Physiotherapeut darf sich nicht gegängelt fühlen, das heißt er muss all das, was er in seiner anspruchsvollen Ausbildung gelernt hat, auch bestmöglich und auf der Basis der neuesten therapeutischen Erkenntnisse anwenden können.
2. Und genauso wichtig: Die Kasse muss stimmen. Jeder Praxisinhaber will entsprechend seiner Ausbildung und seinem Arbeitseinsatz bezahlt werden.
3. Aber genauso will er seinen Mitarbeitern vernünftige Gehälter zahlen können. Bei den Mitarbeitern gilt dasselbe wie beim Praxisinhaber: Das Einkommen muss stimmen, es darf nicht hinter der Bezahlung zum Beispiel im Krankenhaus hinterherhinken.
Heißt das, dass Sie die Aktion "38,7% mehr wert." des Deutschen Verbandes für Physiotherapie unterstützen? Gibt es eine Gerechtigkeitslücke?
Aus meiner eigenen Berufspraxis kenne ich die Zahlen. Bei einem Stundenumsatz von um die 40,- Euro kann man nicht wirklich angemessene Gehälter zahlen.
Die Gehälter im öffentlichen Dienst sind hier deutlich höher. Ich teile die Auffassung, dass hier eine starke Ungleichheit herrscht. Hier muss angeglichen werden.
Sie wissen aber auch, dass eine solche Einkommensverbesserung nicht im Wege von Gebührenverhandlungen mit den Krankenkassen umgesetzt werden kann. Was kann, was muss also geschehen?
Dass wir Berufskollegen uns einig sind über die Höhe der Einkommenslücke, die hier klafft, bedeutet noch nicht, dass wir auch Recht haben. Wir sind nicht die einzigen, die jammern. Wir brauchen also Fakten, Fakten, Fakten. Der Kollege Laumann, der im Gesundheitsministerium für die Pflege zuständig ist, hat vorgemacht, wie es geht: Die Bundesregierung hat eine Studie zur Einkommenssituation "Was man in den Pflegeberufen in Deutschland verdient" in Auftrag gegeben und sechs Monate später wusste jeder, woran wir sind. Genau das erwarte ich auch für den Heilmittelbereich. An vielen Stellen liegen ja bereits Zahlen vor, diese Zahlen muss man zusammentragen, sichten und bewerten. Dafür gibt es Fachleute.
Sie sprachen eben von Gängelung der Physiotherapeuten in der Therapie. Was meinen Sie damit konkret?
Ich meine damit nicht mehr das Problem der von Ärzten fehlerhaft ausgestellten Verordnungen, die zu Retaxierungen, das heißt zu Honorarkürzungen durch die Krankenkassen führen. Dafür haben wir eine Lösung gefunden. Das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) wird zwingend vorschreiben, dass die ärztliche Praxissoftware ertüchtigt wird. Wenn Sie im Internet etwas bestellen, können Sie die Bestellung erst abschicken, wenn sie vollständig ausgefüllt ist. Nichts anderes passiert also demnächst bei der Verordnung von Heilmitteln. Der Druckvorgang beginnt erst, wenn der Arzt alle Angaben korrekt eingegeben hat, die auf der Heilmittelverordnung stehen müssen. Welche Angaben das in Zukunft sind, was da entfallen kann, darüber werden die Berufsverbände ja eine Vereinbarung mit dem Spitzenverband der Krankenkassen schließen. Und wenn das nicht klappt, entscheidet das ein Schiedsamt.
Der Abbau an Bürokratie ist an dieser Stelle also sicher. Aber worum geht es ansonsten, Herr Dr. Kühne?
Sie wissen wie ich, dass die medizinische Entwicklung auch im Heilmittelbereich in den letzten 20 Jahren explodiert ist. Es gibt inzwischen Leitlinien, wie zum Beispiel die zum chronischen Rückenschmerz, die dem verordnenden Arzt aufzeigen, was im Regelfall zu verordnen ist und was nicht. Nur: Die Bereitschaft, das Verordnungsverhalten umzustellen, ist bei den Ärzten sehr ungleichmäßig ausgebildet.
Ein erster Schritt wäre hier die Einführung der Blanko-Verordnung, das heißt der Arzt stellt die Indikation Physiotherapie und der Behandler bestimmt selbst die Art des Heilmittels, die Dauer der Behandlung und die Frequenz. Alles natürlich innerhalb der Vorgaben des Heilmittelkatalogs. Es geht also darum, die qualifizierten Therapeuten stärker in die Versorgungsverantwortung einzubinden. Ich erwarte mir davon eine besseren Therapieerfolg und damit geringere Kosten für die Krankenkassen, aber auch für die Volkswirtschaft insgesamt, wenn die krankheitsbedingten Fehltage zurückgehen.
Unterstützen Sie die Forderung nach dem Direktzugang?
Ja. In meinem Arbeitspapier habe ich den Direktzugang unter bestimmten Voraussetzungen gefordert. Physiotherapeuten begleiten ihre Patienten, insbesondere bei chronischen Erkrankungen, häufig über viele Jahre hinweg. Der Patient wacht morgens auf und weiß - wie schon mehrfach vorher - "ich habe Rücken": Warum soll er erst auf den Termin beim Arzt warten? Warum sollte er als Selbstzahler nicht direkt zu seinem Physiotherapeuten gehen dürfen, wenn er das will? Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum eingeschränkten Heilpraktiker und die Umsetzung dieser Entscheidung durch die Gesundheitspolitik auf Landesebene zeigt doch: Es fehlen nur 40 bis 60 Stunden in der Ausbildung. Die Logik wäre also: Eine Änderung des Ausbildungsgesetzes, beziehungsweise eine Ergänzung des Curriculums. So wäre der eingeschränkte Heilpraktiker für die Zukunft unnötig.
Heißt das, dass Sie auf die akademische Ausbildung von Physiotherapeuten verzichten wollen?
Überhaupt nicht. Eine akademische Ausbildung vermittelt die Kompetenz, evidenzbasiertes Denken und Handeln in die physiotherapeutische Versorgung einzubringen. Genauso wichtig: Wir benötigen Kolleginnen und Kollegen, die selbst in der Lage sind, die Wirksamkeit unserer Tätigkeit wissenschaftlich nachzuweisen. Wir brauchen deshalb akademische Physiotherapeuten vor allem auch für die Forschung. Bisher machen das, wenn überhaupt, Ärzte, oder wir greifen auf Studien aus dem Ausland zurück. Das ist für den Berufsstand nicht hilfreich. Ich sehe nur in den nächsten Jahren noch keine Vollakademisierung kommen. Bedenken Sie, dass der Wissenschaftsrat nur eine Quote von 10 bis 20 Prozent jedes Ausbildungsjahrgangs für notwendig hält. Ich fürchte, dass dies zunächst Richtschnur für die Politik bleiben wird. Deshalb dürfen wir die Qualität der bestehenden Ausbildung zwar nicht an allen, aber doch an sehr vielen der Schulen nicht kleinreden.
Mein erstes Ziel hier wäre deshalb, die Grundsatzentscheidungen, die die Politik beim Notfallsanitätergesetz getroffen hat, auch im Heilmittelbereich umzusetzen. Dies würde deutliche und klare gesetzliche Qualitätsanforderungen an die Ausbildungsstätten bringen und – ebenso eindeutig: die Schulgeldfreiheit. Mir kann keiner erklären, warum angehende Mediziner keine Studiengebühren zahlen, unsere zukünftigen Kollegen aber mit bis zu 700 Euro monatlich belastet werden. Im Bereich der Notfallsanitäter haben wir das Problem bereits gelöst, wir lösen es zurzeit in der Ausbildung der Altenpflegerinnen und Altenpfleger, aus meiner Sicht muss im nächsten Schritt die Ausbildung der Heilmittelerbringer angepackt werden.
Sie verändern damit das Berufsbild komplett. Sie geben Ihren Kollegen ungleich mehr Verantwortung. Wer soll im Interesse der Patienten und Krankenkassen kontrollieren, ob das so auch funktioniert?
Das ist nicht eine Frage der Kontrolle, das ist eine Frage des Selbstverständnisses des Berufsstandes, der sich in den letzten Jahren deutlich professionalisiert hat. Dies muss allerdings auch äußeren Ausdruck finden. Ich unterstütze deshalb alle Initiativen auf Landesebene, die die Einrichtung von Heilmittelkammern anstreben. Dort muss das berufliche Selbstverständnis, die Qualitätssicherung, die Fort- und Weiterbildung angesiedelt werden. Dies funktioniert bei den Ärzten, den Apothekern, den Rechtsanwälten, das wird auch bei uns funktionieren, da bin ich mir ganz sicher.
Eine Frage zum Schluss: Welchen Wunsch haben Sie an die Verbandslandschaft?
Ganz ehrlich?
Ich erwarte vom Spitzenverband der Heilmittelverbände (SHV) e.V., dass er ein kraftvolles Sprachrohr für die gesamte Heilmittelbranche ist, also nicht nur für Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, sondern gleichermaßen für Logopäden und Podologen. Ich erwarte von den einzelnen Berufsverbänden, dass sie sich offen zeigen für die "außerparlamentarische Opposition" – also für die Interessensgruppen, die sich in letzter Zeit gebildet haben. Aber diesen Interessensgruppen sage ich auch: Zeigt, dass Ihr bereit seid, konkrete Verantwortung zu übernehmen. Es ist wichtig die Probleme der Heilmittelerbringer öffentlich zu machen, aber danach muss auch professionell politisch gearbeitet werden. Die Teilnahme an Verhandlungen mit den Krankenkassen und die Politik mit Fakten und guten Argumenten zu überzeugen. Natürlich ist das ein schwieriger Weg, aber es geht dabei schließlich um die Existenz eines Berufsstandes und um die Versorgung der Menschen.
Herr Dr. Kühne, herzlichen Dank für das erfrischend offene Gespräch.