Login Mitglieder
A- A A+ Startseite Patienten‌ & Interessierte Fachkreise
20.03.2014

Vorstand vor Ort:

Ute Mattfeld zu Besuch in der Physiotherapiepraxis von Ingo Beye in Neumünster, Schleswig-Holstein.

Lieber Ingo, herzlichen Dank, dass ich heute hier in Deiner Praxis sein darf. Du bist ein gestandener Physiotherapeut und hast Dich lange für die Interessen der Physiotherapeuten im Norden aktiv in unserem Verband eingesetzt. Dein Schwerpunkt ist aktuell hier vor Ort in Neumünster. Du engagierst Dich hier für eine gute Patientenversorgung. Insbesondere die Therapie chronisch erkrankter Patienten und die Behandlung neurologischer Krankheitsbilder liegen Dir am Herzen.

Würdest Du unseren Lesern kurz Deinen beruflichen Werdegang skizzieren?

Nach meinem Examen 1982 in Berlin, an der Vogler-Schule habe ich zunächst Erfahrung in stationären Einrichtungen gesammelt. So war ich ein Jahr in der Orthopädischen Rehaklinik Bad Bevensen, drei Jahre in der Neurologischen Rehaklinik Hess. Oldendorf und zehn Jahre in der Rehaklinik Bad Segeberg. Dort habe ich unter anderem eine neurologische Fachklinik inklusive Frühreha mit aufgebaut, die mit 260 Betten die größte dieser Art in Norddeutschland ist.

…und dann hast Du den Schritt gewagt und Dich selbstständig gemacht?

Ja, seit 1997 habe ich hier in Neumünster eine eigene Praxis, die ich mit zwei Kollegen in Form einer Praxisgemeinschaft führe. Ich selbst habe drei Mitarbeiter. Insgesamt sind wir neun Therapeuten mit unterschiedlicher Ausrichtung.
Mein Schwerpunkt und meine Spezialisierung ist die Neurologie. Ich behandele vor allem Patienten mit Querschnittssymptomatik, Hemiparesen, Parkinsonerkrankte, Schädel-Hirn-Verletzte und ALS-Patienten. Überwiegend findet das durch Hausbesuche statt. Etwa 60 Prozent meiner Patienten können nicht in die Praxis kommen. Meine Spezialisierung bringt die hohe Hausbesuchsquote mit sich, da meine Patienten zum größten Teil an Bett oder häusliches Umfeld gebunden sind. In der Praxis behandele ich natürlich auch alle möglichen anderen Krankheitsbilder. Nur in der Kindertherapie passe ich.

Ich habe meinen Bobathkurs und meinen Vojtakurs noch bei den Namensgebern der Methode absolviert. Selbstverständlich halte ich mich durch Weiterbildungen und durch Kongresse auf dem neuesten Stand. In meine Therapie integriere ich beispielsweise das Laufbandtraining oder die Forced-use-Therapie.

Stellen die "Hausbesuche" eine besondere Herausforderung dar?

An erster Stelle ist die wirtschaftliche Seite zu nennen: Wie alle Kollegen bin auch ich gefordert, einen optimalen Fahrt- und Behandlungsplan zu entwickeln. Meine Patienten leben zum überwiegenden Teil in ihren Familien und sind in ihrem Umfeld integriert. Die Fahrt übers Land muss sich aber rechnen. 

Hausbehandlungen haben im Falle meiner Spezialisierung durchaus auch Vorteile. Viele neurologische, chronische Erkrankungen haben die Tendenz zur Verschlechterung der Symptomatik und damit der drohenden Immobilität. Das ist für jeden Patient sehr individuell. Für Patient A ist es der selbstständige Gang zur Tür oder zur Toilette, für Patient B ist es selbstständiges Essen und Patient C würde gerne Auto fahren. Die Behandlung zu Hause orientiert sich am "wahren Leben". Ich muss keine Alltagssituation nachstellen, ich bin mitten drin. Schließlich ist das große Ziel ja meist Erhalt der Mobilität und Zufriedenheit. Das Leitmotiv meiner Arbeit ist: Soviel Normalität wie möglich, so wenig Kompensation wie möglich und die Verbesserung der Mobilität meiner Patienten. Ich habe einen langen Atem und stecke die Therapieziele niedrig. Meine Patienten erhalten zum Beispiel unterstützende Geräte, wie einfache Trimmräder, Stehtrainer, Schaukelbretter, etc. Ich unterstütze sie in allen Aktivitäten.

Wie könnte man Deine Arbeit aus wirtschaftlicher Sicht optimieren?

Die Versorgung im ambulanten häuslichen Umfeld müsste dringend wirtschaftlich verbessert werden. Beispielsweise könnte ich mir vorstellen, dass die Krankenkassen einen Pauschalbeitrag pro Quartal für die Therapie ausweisen und jeder Therapeut innerhalb dieser Pauschale dann frei behandeln kann. So könnte ich viel besser auf relevante Bedürfnisse und Schwankungen des Patienten eingehen, anstatt routinemäßig ein oder zweimal pro Woche zu therapieren.

Nicht alle Kolleginnen und Kollegen sind so spezialisiert wie Du. Viele stellen sich breit auf, um ein entsprechend großes Klientel behandeln zu können. Wie beurteilst Du selbst die Spezialisierung als Therapeut?

Das ist sicherlich zunächst mal individuell zu entscheiden. Für mich war es eindeutig, mein Schwerpunkt und mein Interesse lagen immer auf dem neurologischen Sektor und ich habe diese Entscheidung nie bereut. Die Ausbildung von "Fachphysiotherapeuten" analog den Fachärzten halte ich für wichtig. Denn: Aus meiner Sicht können und sollten nicht alle alles machen. Dazu sind die Krankheitsbilder und die Symptome häufig zu komplex.

Was ich sehr bedauere und kritisch sehe, ist die ungeregelte Fort- und Weiterbildungsszene in Deutschland. Das fängt bei der Qualität der Fortbildungen an und hört bei der Interpretation von Methoden auf. Die wenigsten Therapieansätze beruhen auf validen Aussagen. Damit meine ich aber nicht nur die wissenschaftlichen Studien, sondern auch Erfahrungswissen von alten Hasen. Ich bin sehr für die Einrichtung einer Berufskammer. Dann könnten Physiotherapeuten das jetzige Bildungssystem grundlegend ordnen und Qualitätskriterien festsetzen.

Ingo, Du warst vor Deiner Selbstständigkeit lange Jahre angestellt als leitender Physiotherapeut in einer Rehaeinrichtung tätig. Wie könnte die Schnittstelle zwischen beiden Systemen verbessert werden?

Die Behandlung in einer stationären Einrichtung, Frühreha oder Anschlussheilbehandlung macht auf jeden Fall Sinn. Es muss medizinisch und therapeutisch eine ausreichende Basis erarbeitet werden, um den Patienten für den Alltag fit zu machen. 

Nach meinen Erfahrungen ist es immer so, dass zwischen stationärer Reha und Alltag zu Hause ein großer Bruch besteht. Viele Patienten fallen buchstäblich in ein Loch. Sie merken, dass gewohnte Abläufe, vertraute Prozesse des Alltags und der Freizeit nicht mehr funktionieren, und dass die "Helferlein", die es im klinischen Ablauf zwangsläufig gibt, nicht mehr da sind. Das ist den meisten in der stationären Phase nicht klar und kann nur ungenügend simuliert werden. 

Abhilfe könnten hier flächendeckende Angebote für Angehörige sein. Man könnte eine Art Überleitungsphase schaffen, die beispielsweise auf besondere häusliche Situationen eingehen könnte. Außerdem müssten therapeutische Behandlungskonzepte besser aufeinander abgestimmt und mehr Wert auf den therapeutischen Bericht gelegt werden.

Aus meiner Sicht fehlen Konzepte, wie chronisch kranke Menschen im häuslichen Umfeld mit der richtigen Therapie versorgt werden können. Die Pflege ist uns da voraus. Leider sind bezüglich Therapie, Mobilität und dem Erhalt der Selbstständigkeit keine kreativen Projekte von politischer Seite oder auch seitens der Krankenkassen in Sicht. 

Der 2. Gesundheitsmarkt, die Möglichkeit über den sektoralen Heilpraktiker Physiotherapie im Direktzugang zu arbeiten, die Spezialisierung auf Prävention oder Betriebliche Gesundheitsförderung wird von vielen Freiberuflern als Standbein neben der Patientenversorgung durch den Heilmittelkatalog gesehen. Wie siehst Du das? Welchen Weg gehst Du in Deiner Praxis?

Ich hab mich für die Zusammenarbeit mit der Rheumaliga, im speziellen der Fibromyalgiebehandlung und der betrieblichen Gesundheitsförderung entschieden. Im Bereich der Betrieblichen Gesundheitsförderung arbeite ich vor Ort unter anderem mit dem technischen Zentrum des örtlichen Entsorgungsbetriebes zusammen. Ich führe Rückenschulungen durch, aber das Wesentliche ist die individuelle Betreuung der Mitarbeiter. Ich schaue mir die Arbeitsabläufe an und erfrage die individuelle Problematik. Daraus ergeben sich Empfehlungen zur Veränderung der Arbeitsabläufe, bei deren Umsetzung ich tatkräftig helfe. Das ist nicht immer leicht, macht aber großen Spaß.

Seit Jahren arbeite ich mit der Rheuma Liga Kiel zusammen und betreue als einer von fünf Standorten in Schleswig-Holstein das Fibromyalgie-Programm. Das Programm integriert Psychologische Schulung, Aktivität und Entspannung und wird wissenschaftlich begleitet. Die Gruppe besteht aus 10 bis12 Patienten, die sich verpflichten, für ein Jahr an diesem Programm teilzunehmen.

Und was hältst Du vom Direktzugang?

Es steht für mich außer Frage, dass Patienten auch ohne ärztlichen Kontakt zum Physiotherapeuten gehen können dürfen. Aber: Ich lehne es ab, dass diese Regelung nur für Privatpatienten oder für Selbstzahler gelten kann. Auch gesetzlich versicherte Patienten müssen direkt zum Physiotherapeuten gehen können. Erfahrungen im Ausland zeigen ja, dass der Direktzugang keine Mehrkosten für das System verursacht, sondern eher das Gegenteil der Fall ist. 

Ingo, Du warst lange Jahre in führender Funktion im Landesverband Hamburg/Schleswig-Holstein tätig. Wie können wir aus Deiner Sicht Physiotherapeuten stärker motivieren, sich zu solidarisieren und gemeinsam als Verbandsmitglieder für bessere Rahmenbedingungen zu kämpfen? 

Vielleicht sind meine Ansichten altmodisch, aber ich halte es für eine Selbstverständlichkeit, sich innerhalb seiner Berufsgruppe solidarisch zu zeigen und für das Weiterkommen der Gruppe zu sorgen. Nicht jeder hat Zeit und Nerven, das aktiv zu tun. Aber einen Grundbeitrag sollte jeder bereit sein zu geben. Es bringt nichts, nur die persönlichen Vorteile einer Verbandsmitgliedschaft zu sehen. Damit erreicht man für den Beruf nichts und damit auch nichts Nachhaltiges für sich selbst.

Solidarität ist für mich selbstverständlich und gehört einfach dazu. Wir haben in Europa und in Deutschland ein ausgeprägtes soziales Sicherungssystem. Das hat allen Epochen und allen politischen Strömungen getrotzt. Dem fühle ich mich verpflichtet.

Lieber Ingo, vielen herzlichen Dank für dieses Interview und dafür, dass Du unseren Lesern einen Einblick in Deine Spezialisierung, Deine Erfahrung im Beruf und in der Berufspolitik gegeben hast. 

Das Gespräch führte Ute Mattfeld, Vorsitzende des Deutschen Verbandes für Physiotherapie.

Wollen Sie Gastgeber bei einer der nächsten "Vorstand vor Ort"-Besuche sein? Ihre Einrichtung vorstellen und mit mir in Dialog treten? Dann schreiben Sie uns an info(at)physio-deutschland.de.